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Donnerstag, 12. Juni 2014

Her Yer Taksim - Prozessbeginn gegen Gezi-Aktivisten

Es ist noch nicht ganz 9 Uhr morgens, als Mücella Yapıcı, eine aeltere Dame in blauem Kleid und weisser Bluse, vor dem gigantischen Gerichtsgebaeude in İstanbul auftaucht. Die Umstehenden begrüssen sie freundlich, schütteln ihr aufmunternd die Hand, klopfen ihr auf die Schulter. Sie nickt ihnen zu, laechelt, und verschwindet dann mit ihren Begleitern im Gebaeude.

Yapıcı ist Vorsitzende der İstanbuler Architektenkammer und eine der fünf Hauptangeklagten im Prozess gegen die Mitglieder der Taksim Solidaritaet. Die Bürgerinitiative war an der Organisation der Proteste im İstanbuler Gezi-Park im vergangenen Jahr beteiligt. Die Staatsanwaltschaft wirft ihnen die Bildung einer kriminellen Vereinigung vor. Werden sie verurteilt, drohen ihnen bis zu 13 Jahre Haft. Insgesamt stehen an diesem Tag 26 Personen vor Gericht. Ihnen allen werden Straftaten im Zusammenhang mit den Protesten vorgeworfen.

Der Gerichtssaal ist überfüllt. Laengst nicht jeder, der zum Zuschauen gekommen ist, findet einen Sitzplatz. Dabei ist die Menge der Zuschauer mit 150 bis 200 Personen überschaubar. Mehr Unterstützer sind nicht gekommen. Es ist immerhin mitten in der Woche, ein Werktag. Absicht, da sind sich viele der Beobachter sicher. Dass trotzem nicht genug Platz im Saal ist, liegt schlicht an der Raumgrösse. Den halben Raum besetzen die Angeklagten und ihre Anwaelte, mehr als 100 Sitzplaetze gibt es im Zuschauerbereich nicht. Dabei findet der Prozess im grössten Gerichtsgebaeude Europas statt. Die Grösse dieses Baus, auf den Premierminister Erdoğan überaus stolz ist, ist jedoch mehr Schein als Sein - einen Grossteil des Gebaeudes nimmt die enorme Eingangshalle ein.

Wer es in den Saal geschafft hat, bekommt trotzdem nicht viel mit. Es fehlt an Mikrofonen, die Verlesung der Anklageschrift dringt so gut wie gar nicht bis zum Publikum vor. Dann steht Mücella Yapıcı auf und traegt mit lauter Stimme ihre Verteidigung vor. Taksim Solidaritaet sei keineswegs eine kriminelle Vereinigung, sondern eine Plattform, auf der zivilgesellschaftliche Gruppen zusammengekommen seien. "Auf der İstiklal-Strasse entlangzugehen oder den Gezi-Park zu betreten ist kein Verbrechen", sagt sie. "Aber die Polizei verbietet es uns." 

Yapıcı soll ausserdem die Arbeit der Polizei behindert haben. Ein Vorwurf, der sie schmunzeln laesst. "Ich bin zu alt dafür", sagt die 63-jaehrige. "Wenn die Polizei wirklich annimmt, dass ich das kann, dann tue ich das auch. Es ist zu schmeichelhaft." Dann wird Yapıcı wieder ernst. "Statt uns sollten sie lieber die Verantwortlichen für die Polizeigewalt anklagen." Im Saal bricht Applaus aus.

Yapıcı und ihre Mitangeklagten sehen sich nicht nur als Einzelpersonen, die vor Gericht stehen. "Wir verteidigen nicht nur uns selbst, sondern die ganze Gezi-Park-Bewegung", sagt Ali Cerkesoğlu von der İstanbuler Aerztekammer. Auch er ist einer der fünf Hauptangeklagten, ebenso wie Haluk Ağabeyoğlu. Ihnen drohen ebenfalls hohe Haftstrafen. Doch das spielt für Ağabeyoğlu keine Rolle. "Es geht nicht um unsere individuelle Zukunft", erklaert er. "Wir leben in einer Gesellschaft. Und um die geht es, nicht um uns." 

Für Ağabeyoğlu ist dieser Prozess ganz klar kein juristischer, sondern ein politischer. Dass das Verfahren überhaupt eröffnet wurde, zeigt in seinen Augen die Angst des Staates vor zivilem Widerstand. Deswegen sei die Verhandlung an diesem Tag kein "Prozess in diesem Sinne", und auch über den Ausgang könne man noch nicht viel sagen. Bis zum Urteilsspruch kann noch viel Zeit vergehen, und Ağabeyoğlus Meinung nach ist der Ausgang ungewiss. "Das Recht wird heute vom Ministerpraesidenten gesteuert, und der verhaelt sich inzwischen wie ein Diktator", sagt er. 

Montag, 17. Juni 2013

Turkey, you are not alone! Her yer Taksim, her yer direniş!

Unfassbar.
Ich bin sprachlos. Ich weiß nicht mehr, was ich sagen soll.
Seit zwei Wochen sitze ich Stunde um Stunde vor meinem Computer, voller innerer Unruhe, auf dem Stuhl wippend, und verfolge die Nachrichten aus der Türkei. Mit jedem Tag wächst meine Wut auf Erdogan und seine Regierung,  jedem Tag frage ich mich, was in diesem Mann eigentlich vorgeht. Und mal um mal komme ich zu dem Schluss: ein Verrückter!

Was geht vor in einem Menschen, der sein eigenes Volk von der Polizei niederknüppeln lässt? Der friedliche Protestierende mit Wasserwerfern und Tränengasgeschossen angreift? Junge Menschen, die für ihre Rechte eintreten? Frauen? Kinder? 

Dieser Mann ist vollkommen größenwahnsinnig. Und das ist nichts Neues. Schon letztes Jahr, während ich in Istanbul gelebt habe, konnte ich über ihn und seine Politik nur den Kopf schütteln. Immer weiter und weiter steigende Alkoholsteuern, Einschränkungen des Barbetriebs auf Gehwegen, Abtreibungsgesetze, die Abtreibungen fast unmöglich machen. Terroristengesetze, die derartig weit formuliert sind, dass regierungskritische Journalisten und Juristen als Terroristen im Gefängnis sitzen, Hunderte, seit vielen Monaten in Untersuchungshaft - und bei einer Verurteilung noch für viele Jahre. All das ereignete sich in Istanbul, über all das wurde um mich herum gesprochen. Es hat gebrodelt. Aber eben nur in bestimmten Kreisen. Mir war immer klar, dass ich mich in einem Umfeld bewegt habe, das nicht der Mehrheit der Türkei entspricht. Ich war (bin) mit jungen Türken und Türkinnen befreundet, die sich für Politik interessieren, die Erdogan und die AKP nicht unterstützen, die ihre Freiheiten und ihre Selbstbestimmung fordern. Aber dennoch war klar: Da ist Ärger, der sich anstaut. Ich kann nur noch einmal wiederholen, was Sinan zu mir gesagt hat: "Es war genug!"

Auch was die Istanbuler Polizei angeht, hatte ich immer ein ungutes Gefühl. Wann immer ich auf der Istiklal Straße, die zum Taksim Platz führt, an uniformierten und bis an die Zähne bewaffneten Polizisten vorbeigelaufen bin (und das war oft, denn dort sind sie fast immer präsent und so ausgestattet sind sie auch fast immer), überkam mich ein Schauder. Ich wollte schnell an ihnen vorbei. Nur nicht hingucken, nur nicht auffallen. Auf mich wirkten sie, als warteten sie nur auf einen Fehler, auf eine auffällige Bewegung, auf irgend einen Grund zum Handeln. Jedes mal wieder überkam mich der Gedanke: "Die sehen nicht aus, als seien sie hier, um die Bevölkerung vor was auch immer zu beschützen. Die sehen aus, als wären sie hier, um ihre Chefs vor der Bevölkerung zu 'beschützen'." Und wie oft habe ich von verschiedensten Seiten das Gemunkel vernommen, dass mindestens jeder zweite Kastanien- oder Simitverkäufer in den Straßen Istanbuls ein Polizist in zivil sei, dessen Aufgabe es ist, die Menschen zu beobachten. Zu überwachen. Denn die Menschen in Istanbul sind ja eine Gefahr.

Für wen? Für Erdogan? Den gewählten Vertreter der Menschen in der Türkei? Was können sie ihm denn tun? Ich meine, außer ihn nicht wieder zu wählen? (Was sie ohnehin nicht können, da er kein weiteres Mal kandidieren darf.) Dieses Gefühl, unter Generalverdacht zu stehen, war jedenfalls präsent. Und dass dieses Gefühl nicht gerade eine angenehme Atmosphäre hervorbringt, kann sich sicherlich jeder vorstellen.

Erdogan aber will seine Macht nicht hergeben. Nein, er spielt sich auf wie der unangefochtene Alleinherrscher. Wie er auf der Bühne vor seinen Anhängern auftritt, sagt alles. Er schreitet auf der Bühne auf und ab, das Mikrofon in der Hand, und ruft seine Kampfsprüche. Er habe den Demonstranten die Hand hingestreckt, doch zurückbekommen habe er eine geballte Faust. Na klar, macht Sinn, da blieb ihm ja nichts anderes übrig, als in der Nacht zu Sonntag mit aller Gewalt und Brutalität gegen diese Terroristen vorzugehen. Denn Terroristen sind sie ja alle. Erdogan hat schließlich kurze Zeit vor dem Angriff alle Bürger aufgefordert, den Platz und den Park zu verlassen - wer später noch da war, konnte ja nur Extremist sein. Und ganz klar wurde betont: Wer sich auf das Gelände des Taksim Platzes begiebt, wird als Terrorist behandelt.
Doch zurück zu Erdogans Auftreten. Wie er da auf der Bühne auf und ab geht, wie er ins Mikrofon brüllt... Ich konnte nicht anders, als an einen der vielen Hollywoodfilme a la Herr der Ringe zu denken, in denen der König des stolzen Heeres noch einmal vor seinen Soldaten auf und ab reitet, mit dem Säbel rasselt und ihnen Kampfesgeist entgegenbrüllt, bevor er sie in die Schlacht gegen die feinliche Armee schickt.

Seit zwei Wochen kann ich die Nachrichten einfach nicht fassen. Am Dienstag war ich außer mir. Bilder über Bilder, Video, Berichte über willkürliche Polizeigewalt. Nicht nur Informationen, die durchs Netz geistern, sondern solche, die mich von Freunden erreichen. Von Menschen, die ich kenne und denen ich vertraue. Und um die ich mir Sorgen mache.
Am Anfang schwang in diesen Berichten große Euphorie mit. "Du solltest hier sein Dinah, du solltest das sehen. Diese Solidarität zwischen den Menschen, das ist unglaublich!" Freude, Euphorie. Und viel viel Entschlossenheit: "Wir werden hier bleiben, bis wir unser Ziel erreicht haben!" Dann der Dienstag. Die Berichte wurden erschöpfter. Von Massenpaniken ist die Rede, von Verfolgungsjagden, von der Angst, zu stolpern und von den Flüchtenden zertrampelt zu werden. Von in zivil gekleideten Menschen, die die Flüchtenden mit Holzknüppeln und Messern angreifen. Ich saß mit meiner Schwester vor einem Video Livestream vom Taksim Platz und konnte die Augen nicht abwenden. So mussten wir zusehen, wie die Polizei die Menschen mit Wasserwerfern gezielt  beschossen hat. Mir blieb die Luft weg, als ich sah, wie selbst  einen wehrlosen Mann - alleine, unbewaffnet und im Rollstuhl - zum Ziel des Wasserwerfers wurde.

Dann Beruhigung. Und dann die Nacht zu Sonntag.

Die Nachrichten, die jetzt bei mir ankommen, haben jede Begeisterung und jede Euphorie verloren. Jede Freude. Seit letzter Nacht ist alles anders. Die Polizei hat nicht nur unter Einsatz von Unmengen Tränengas, Wasserwerfern und Gummigeschossen den Park geräumt, in dem friedliche Menschen, unter ihnen Familien mit kleinen Kindern waren. Sie hat auch die Orte wie das Divan Hotel, in dem freiwillige Ärzte Verletzte versorgen, mit Tränengasgeschossen angegriffen. Sie hat die Ärzte verhaftet. Auch Rechtsanwälte werden seit Tagen verhaftet - laut der Istanbuler Anwaltskammer waren es heute Abend gegen halb 11 türkischer Zeit 290. Ein gängiges Mittel in der Türkei, mit dem Menschen der Rechtsschutz verwehrt wird - die Anwälte werden verhaftet. Ebenso die Anwälte der Anwälte, wie man am Beispiel des Prozesses gegen Öcalan sieht. 
Den ganzen Sonntag über häufen sich die Nachrichten von gewaltätigen Auseinandersetzungen in Istanbul und anderen türkischen Städten. Polizisten durchstreifen die Straßen, ständig gibt es neue Meldungen von Verhaftungen. Von prügelnden Polizisten. "Wir trauen uns nicht mehr auf die Straße, ohne unsere Blutgruppe auf den Arm zu schreiben", sagt einer meiner Freunde. Realität oder eine symbolische Aussage, ich weiß es nicht. Aber macht das eigentlich einen Unterschied?
"Wir sind denen wahrscheinlich einfach nicht viel wert. Wie Ungeziefer", sagt ein anderer Freund, als ich bestürzt frage, wie die Polizisten das, was sie da tun, eigentlich tun können. Ein dritter schickt mir den Link zu einem Video, in dem zu sehen ist, wie die Polizei einen Mann misshandelt und wegträgt. Dieser Mann ist ein Freund von mir. Und ein Journalist. Und einer von vielen, denen das Selbe passiert ist.

Ich weiß, ich sage hier nichts Neues. Und doch hatte ich das Gefühl, ich muss es sagen. Vielleicht für mich. Um meinen eigenen Gefühlen der Ohnmacht etwas entgegenzusetzen. Aber doch nicht nur für mich.
Ich sitze hier in Berlin hin und her gerissen zwischen dem Gefühl, ich müsste eigentlich in Istanbul sein und dem Gefühl der Erleichterung, nicht dort zu sein. Ich fühle, dass ich etwas beitragen will. Muss. Und weil ich nicht in Istanbul sein kann, muss ich eben das tun, was im Rahmen des mir Möglichen liegt: Laut werden.

Wir alle können den Menschen in Istanbul, in Ankara, in Adana und Antalya, in Hatay, und überall sonst in der Türkei zeigen, dass sie nicht allein sind. Dass wir sie sehen und hören und dass wir bei ihnen sind. Wir können ihre Bilder, ihre Videos und ihre Kommentare teilen. Wir können Demonstrieren. Wir können sichtbar und hörbar sein - um ihnen zu zeigen, dass wir bei ihnen sind, um Erdogan zu zeigen, dass wir bei ihnen sind, um der Welt zu zeigen, dass wir bei ihnen sind.

Was ihr hier lest ist ein Bruchteil von dem, was mir durch den Kopf geht. Aber mehr bin ich gerade nicht in der Lage zu formulieren. Mir fehlen die Worte. In meinem Kopf überschlagen sich die Gedanken. Aber wie gesagt, ich glaube, es ist wichtig, Worte zu finden. Und sie zu teilen. Danke.

Montag, 10. Juni 2013

Türkei, Taksim und Tränengas: „Es geht nicht darum, ob sich etwas ändern wird. Es ist schon alles anders.“



--- pictures of Berlin çapuling below  ---



Die Nachrichten aus der Türkei nehmen kein Ende. Die Proteste dauern nun etwa zwei Wochen an. Nach wie vor sind im ganzen Land die Menschen auf den Straße und demonstrieren, nach wie vor kommt es zu gewalttätigen Zusammenstößen mit der Polizei, bei denen diese mit unverhältnismäßiger Gewalt vorgeht. Und nach wie vor spricht Premierminister Erdoğan von „Provokateuren“.

Eine Darstellung, über die die Protestierenden nur den Kopf schütteln können. „Wir sind keine Provokateure“, betont der 26-jährige Student Sinan. „Er ist derjenige, der provoziert.“ Für den jungen Mann steht eins fest: Das, was die Menschen auf die Straße gebracht hat, war der autoritäre Führungsstil Erdoğans. Sinan zufolge versuchte dieser, Einfluss auf alle Aspekte des Lebens der Menschen in der Türkei zu nehmen; seien es Einschränkungen für den Kauf von Alkohol, die Anzahl der Kinder, die eine Frau bekommen solle, ja sogar die Zusammensetzung von Brot – oder eben das Abholzen eines Parks im Zentrum Istanbuls und der Wiederaufbau von Militärkasernen als Einkaufszentrum. „Es war genug“, sagt Sinan erregt. „Selbst meine Eltern können sich nicht auf eine solche Art und Weise in mein Leben einmischen!“

Für ihn kamen die Proteste nicht überraschend. Er wusste, dass irgendwann etwas passieren würde – nur wann, das wusste er nicht. Sinan spricht von angestauter Wut, die sich jetzt und hier entladen hat. „Es geht hier nicht um einen Baum. Am Anfang, am 27. Mai, ja, da ging es um einen Baum. Aber am 28. Mai schon nicht mehr. Jetzt geht es um Demokratie.“

Sinan erklärt, dass die jetzige Bewegung keineswegs aus dem Nichts kommt. Bereits seit drei Jahren setzt sich die „Solidarity Taksim Bewegung“ mit den Umbauplänen für Istanbuls Innenstadt auseinander. Hier engagieren sich die Vertreter von Architekten- und Stadtplanungsverbänden, politische Parteien, Nichtregierungsorganisationen und viele andere Gruppierungen dafür, in Entscheidungen mit einbezogen zu werden. „Erdoğan ist kein Architekt. Er ist auch kein Arzt, kein Stadtplaner, kein Ernährungsexperte, kein Familienplaner – aber er möchte der einzige Entscheidungsträger sein.“ Für Sinan bedeutet das, dass der Premierminister sich in Bereiche einmischt, die ihn nichts angehen. „Es geht ihn nichts an, wie viele Kinder wir bekommen oder ob wir religiös sind – das ist unsere Sache, und es ist sehr persönlich“, erklärt er.

Erdoğan hat immer wieder betont, die Protestierenden seien ein paar Extremisten und „Marodeure“, wie deutsche Medien das türkische Word „çapulcu“ oft übersetzt haben. Sinan sieht das anders: „Wer da protestiert? Das ist die Jugend der Türkei!“ Er nimmt Bezug auf eine Studie der Istanbul Bilgi University, die zwischen dem 03. und 04. Juni durchgeführt wurde. Dieser Befragung zufolge sind über 60% der Menschen auf dem Taksim-Platz zwischen 19 und 30 Jahren alt. Mehr als die Hälfte von ihnen gab an, sich vorher niemals an einer Demonstration beteiligt zu haben und ebenfalls über 50% bezeichnen sich selbst als nicht politisch. „Was sie auf die Straße gebracht hat, ist ein autokratischer und patriarchaler Premierminister, der versucht, sich als jedermanns Vater aufzuspielen“, erklärt Sinan. Die Bezeichnung „çapulcu“ – eigentlich negativ konnotiert – hat die Protestbewegung nun als Selbstbezeichnung übernommen. Nicht nur auf den Demonstrationen in der Türkei, auch auf den Solidaritäts-Kundgebungen etwa in Berlin sieht man Menschen, die sich das Wort groß auf die Brust oder auf den Rücken geschrieben haben. Und in sozialen Medien wie facebook haben viele junge Menschen das Wort als Vorsatz mit ihrem Benutzernamen verknüpft. „Es beschreibt uns ganz gut“, findet Sinan. „Wir haben es übernommen und verinnerlicht. Es hat jetzt eine neue Bedeutung: Es meint Menschen, die ihre Rechte einfordern.“

Die „Çapulcus“ geben sich große Mühe, dem Premierminister keinerlei Angriffsfläche zu bieten. Immer wieder sieht man Menschen, die mit großen Müllsäcken durch die Straßen laufen und Müll einsammeln. Im Gezi-Park wurden Verhaltensregeln bekanntgegeben, um einen friedlichen Protest zu ermöglichen. Sinan selbst engagiert sich als Freiwilliger in einem Kommunikationsnetzwerk. Dieses Netzwerk versucht, eingehende Informationen zu verifizieren, bevor diese über verschiedenen Social–Media-Kanäle verbreitet werden. „Es sind viele Fehlinformationen verbreitet worden. Das wollen wir verhindern“, so Sinan. Seine Arbeit verrichtet er vor allem am Computer und am Telefon. „Wenn ich eine Meldung über Verletzte bekomme, rufe ich bei den jeweiligen Stellen an und versuche, die Informationen von den Ärzten bestätigt zu bekommen.“ Das Ziel des Netzwerkes ist es, den Menschen sowohl in der Türkei als auch im Ausland verlässliche Informationen zu liefern.

„Wir haben von vorangehen Protesten wie dem Arabischen Frühling oder Occupy Wallstreet gelernt. Wir wissen, welche Rolle soziale Medien spielen, wie wir uns verhalten müssen und wie wir die öffentlichen Medien in die Knie zwingen. Das hier ist der ausgereifteste zivile Widerstand des letzten Jahrzehnts“, findet Sinan.

Er ist sehr dankbar für die Unterstützung, die er und seine Freunde von Menschen aus aller Welt erhalten. Erdoğans Vorwürfe, die Proteste seien aus dem Ausland gesteuert, weist er jedoch als absurd von sich. „Ich weiß, wer neben mir protestiert. Da gibt es keine Beeinflussung von außen. Auch deswegen kämpfen wir gegen Fehlinformationen.“ Dennoch betont Sinan die Rolle der ausländischen Medien. So habe die Nachrichtenagentur Reuters mitten aus den Protesten heraus berichtet, während das türkische Fernsehen den Menschen eine Dokumentation über Pinguine zeigte. Dies bewegte Menschen dazu, vor den Sitzen des Fernsehsenders HaberTürk zu demonstrieren. Die türkischen Sender berichten nun zwar auch über die Proteste, doch in Sinans Augen berichten sie auf einer regierungstreuen Linie und sprechen immer wieder von den Protestierenden als Provokateuren.

Sinan ist auch dankbar für die Solidaritätskundgebungen, die überall im Ausland stattfinden. „Diese Menschen unterstützen uns sehr. Auch sie üben Druck auf unsere Medien aus.“ Ganz besonders betont er all jene Menschen, die selbst Videos und Fotos über die sozialen Medien verbreiten. „Dafür braucht man Rückgrat. Dafür braucht man einen Arsch in der Hose. Und ich bin ihnen so dankbar.“

Als Sinan von der Situation auf dem Taksim-Platz und im Gezi-Park spricht, schwingt Begeisterung in seiner Stimme. Seit knapp einer Woche ist dieser Bereich von den Protestierenden besetzt, die Auseinandersetzungen mit der Polizei haben sich in andere Gebiete verlagert. Der Gezi-Park wurde zum Zentrum und Symbol der Protestbewegung, Tausende campen hier, es gibt Konzerte, eine Bibliothek, Workshops zu unzähligen Themen, die Menschen feiern. Sinan beschreibt eine für ihn bis dahin unbekannte Solidarität zwischen Menschen, die sich nicht kennen. Selbst zwischen Menschen, die sich früher geweigert hätten, einander die Hand zu reichen. Ein Beispiel dafür sind die verfeindeten türkischen Fußballvereine Beşiktaş, Galatasaray und Fenerbahçe, die nun Schulter an Schulter protestieren. „Ich habe so viele wunderbare Dinge gesehen. Es ist wirklich außergewöhnlich.“ Er erinnert sich an Taksim als eine hektische, überfüllte Gegend mit großer Polizeipräsenz. „Trotzdem hat man sich dort nie sicher gefühlt. Jetzt ist die Polizei weg und die Menschen kontrollieren den Platz. Taksim war nie sicherer“, betont Sinan.

Diese Solidarität ist auch der Grund, aus dem Sinan überzeugt ist, dass die Bewegung erfolgreich ist. „Es geht nicht darum, ob sich etwas ändern wird“, stellt er heraus. „Es ist schon alles anders. Wir haben es geschafft, uns zusammenzuschließen.“ Die für den jungen Mann nun bedeutsame Frage ist, wann die Protestierenden den Platz verlassen werden. Und seine Antwort darauf ist bestimmt: „Wenn unsere Forderungen erfüllt sind.“

Sinan nennt die fünf Hauptforderungen von "Taksim Solidarity". Zuallererst soll der Gezi-Park ein Park bleiben. „Das steht außer Frage. Selbst, wenn der Platz vorher keine symbolische Bedeutung hatte – jetzt hat er sie“, erklärt Sinan. Doch bisher hält Erdoğan nach wie vor an seinen Umbauplänen fest. Als Zweites nennt Sinan die Forderung nach dem Rücktritt der Verantwortlichen für die Polizeigewalt. Der dritte Punkt fordert das Verbot des Einsatzes von Tränengas. Die Protestierenden fordern außerdem die Freilassung der im Zuge der Proteste inhaftierten Menschen. Und letztlich verlangen sie ein Ende der Einschränkungen in Bezug auf Versammlungen und Proteste in öffentlichen Räumen. Eine Militärintervention schließt der junge Mann allerdings aus, es sei nur eine verschwindende Minderheit, die das befürworte.

„Das sind unsere fünf dringlichsten Forderungen“, erklärt Sinan. Doch in seinen Augen dienen diese Forderungen zunächst dazu, die Solidarität zwischen den Menschen aufrecht zu erhalten. „Ihre Erfüllung wird den Leuten zeigen, dass wir gemeinsam etwas bewegen können.“ Doch das eigentliche Ziel geht in Sinans Augen weit über diese Forderungen hinaus. „Unsere wichtigste Forderung ist die Demokratie“, betont er. Und er ist überzeugt davon, dass der Premierminister irgendwann von seiner Position abweichen muss: „Das ist unser Land, das sind unsere öffentlichen Plätze, unsere Parks. Wir werden hier bleiben, bis wir bekommen, was wir wollen; bis wir eine bessere Demokratie haben.“








See some pictures here:


Berlin çapuling

Sonntag, 6. Januar 2013

Von Macken und Fotos

Istanbul.
Was soll man sagen - gerade erst angekommen, und doch ist meine Zeit hier jetzt auch fast schon wieder vorbei. Wie im Fluge. 

Istanbul tatsächlich im Fluge

Was ist denn eigentlich so passiert? "Nichts besonderes", wollte ich fast sagen. Das stimmt natürlich nicht. Nichts, das man jetzt in eine spannende Geschichte verpacken könnte. Aber für mich war es trotzdem ganz besonders. In dieser Stadt hier habe ich gelernt, zu beobachten. Das, was um mich herum geschieht, und das, was in mir geschieht. Ich gehe viel bewusster durch die Straßen als früher und sauge alles in mich auf. Ich freue mich, hier zu sein, mein Leben hier zu leben, die Sprache zu lernen, Menschen zu treffen, Freunde zu finden. Die kleinen kulturellen Unterschiede zu entdecken, die doch so viel ausmachen. Oder auch die ganz offensichtlichen Macken, die die Leute hier so haben.
Kurz vor Weihnachten hat es in Istanbul geschneit. (Nach Weihnachten war es dann aber wieder wunderschön warm und sonnig.) Es ist ja nicht so, dass da Tonnen von Schnee heruntergekommen sind. Nicht ganz wenig, das stimmt. Aber es war halt ein bisschen Schnee. 


Und es ist ja auch nicht so, dass das in Istanbul nie passiert. Als ich Ende Januar 2012 ankam, hat es auch geschneit. Und zwar wirklich viel und für eine recht lange Zeit. Aber trotzdem scheint Schnee in dieser Stadt sowas wie die Apokalypse zu symbolisieren. (Es war übrigens der 20.12., als es angefangen hat zu schneien! oh oh?) Man weiß gar nicht, was man machen soll, wenn es schneit. Istanbul hat jede Menge Berge (Hügel wäre untertrieben...) und so gut wie keine funktionstüchtige Kanalisation. Schon wenn es nur regnet, verwandeln sich die Straßen in wahre Flüsse. Wenn es aber schneit, liegt der Verkehr quasi lahm. Es hat ja auch noch nie jemand etwas von Winterreifen gehört. An besagtem 20.12. gab es auch prompt einen Unfall auf einer der zwei Bosporus-Brücken, mehrere Autos fuhren ineinander. Daraufhin wurde die Brücke komplett gesperrt. Das hatte immense Auswirkungen auf den (ohnehin katastrophalen) Verkehr in der ganzen Stadt. Den ganzen Tag kamen mir Menschen mit leidenden Gesichtsausdrücken entgegen. Verzerrte Gesichter, dicke Mützen, Leute, die sich warmen Atem in die Handflächen pusten und die Schultern hochziehen. "Das ist der kälteste Winter seit 30 Jahren!", habe ich Leute sagen hören. Lustig, im Februar war es auch schon der kälteste Winter seit 30 Jahren! Vielleicht wird es entgegen der allgemeinen globalen Erwärmung in Istanbul jedes Jahr wärmer... Sehr lustig jedenfalls, das Ganze. Ich dachte ja immer, ICH sei ein Schnellfrierer und Jammerer, aber ich wurde eines besseren belehrt.

Dies sei nur eine von vielen schönen Geschichten der letzten zwei Monate. Ansonsten vergehen hier die Tage mit Arbeiten - und ich mag meine Arbeit, ich treffe lauter total spannende und motivierte junge Leute! Da kommt man zu dem Schluss, dass es hier in Zukunft doch eigentlich nur besser werden kann. Und die Abende und Wochenenden? Mit Freunden, mit Türkischlernen, mit tollen Bars und schlechtem Bier, mit Spaziergängen, mit Hamambesuchen und Bazaren, mit viel viel Cay und viel gutem Essen, mit Musik, mit Entdeckungen, mit Spannung und Entspannung, mit einer verrückten kleinen Katze, die mich bestimmt noch auffrisst, bevor ich fahre... (Aber vorher frisst sie all meine Besitztümer!)



 
Komisch, wie diese Stadt einen fesselt. Wie man sich im wahrsten Sinne des Wortes in sie verliebt. Wenn ich auf der Fähre sitze, den Bosporus überquere und dabei auf Istanbuls Skyline, auf Sultanahmet mit dem Topkapi Palast, der Blauen Moschee und der Ayasofia schaue, dann klopft mein Herz.


Wenn ich morgens zur Arbeit laufe, komme ich immer an einer Ecke vorbei, von der man ein wunderbaren Blick den Hang hinunter hat - mitten in eine Ansammlung dieser bunten und irgendwie zusammengewürfelten Häuser, die so typisch sind für Istanbul. Auch dann muss ich jedes Mal in mich hineinlächeln. 


Da fällt der Gedanke an einen Abschied mehr als schwer. Istanbul hat mir viel gegeben, und das Jahr (na ja, die 9 Monate), das ich hier verbracht habe, war ein ganz bedeutendes und wunderschönes Jahr für mich. Was nicht heißt, dass immer alles super war. Was auch bei Weitem nicht heißt, dass an Istanbul alles super ist. Mitnichten. Aber Istanbul ist eine Stadt, die einen Willkommen heißt und die einem so viel zu bieten hat. Jeden Tag entdeckt man neue Dinge, jeden Tag trifft man neue Menschen. Eine Stadt mit irgendwas so um die 17 Millionen Einwohner, und mit Unmengen Reisender und Menschen aus aller Welt - dass man da auf interessante Menschen trifft, ist quasi vorprogrammiert.

Honig gefällig?

Und Istanbul lässt einen nicht mehr los. Hat man sich einmal in diese Stadt verliebt, kann man ihr schwer den Rücken kehren. Wenn ich mich mal so umgucke, ist es beeindruckend, wie viele Menschen hier hängen bleiben oder wiederkommen. In den letzten zwei Monaten habe ich viele Freunde aus dem ersten halben Jahr wieder getroffen. Manche waren nur zu Besuch da, andere für ein bisschen länger, wieder andere haben eine sich bietende Gelegenheit genutzt, den Besuch mit dem Nützlichen zu verbinden. Und auch die, die nicht wiederkommen, erzählen davon, wie gerne sie es tun würden. 
Ich würde sagen, Istanbul, wir sehen uns wieder. 





Und für noch ein paar Fotos guckt doch mal hier:


Istanbul die Zweite

Montag, 19. November 2012

Prozess gegen Journalisten in der Türkei auf Februar vertagt


- Forderungen der Anwälte abgelehnt - Hungerstreik nach offiziellen Angaben beendet -
In der Türkei ist die zweite Woche der Anhörungen gegen 44 Journalisten zu Ende gegangen. Ihnen wird vorgeworfen, Mitglieder der „Union der Gemeinschaften Kurdistans“ (KCK) und somit einer terroristischen Organisation zu sein. Mehrere internationale Beobachter waren beim Prozess anwesend, unter anderem der Vorsitzende der Europäischen Journalistenföderation Barry White.
Die fünf Prozesstage dienten die vor allem der teilweisen Verlesung der 800 Seiten umfassenden Anklageschrift. Am Montag hatte das Gericht mit der Verlesung begonnen. Dies geschah jedoch in Abwesenheit von Publikum, Anwälten und Angeklagten. Das Gericht hatte zuvor dem Angeklagten Kenan Kırkaya das Wort verweigert, als dieser sich zum Hungerstreik in türkischen Gefängnissen äußern wollte. Dies war für den Prozess von Bedeutung, da sich die inhaftierten Journalisten selbst im Hungerstreik befanden. Letztendlich verließen Angeklagte und Anwälte aus Protest den Saal, das Gericht fuhr alleine mit dem Prozess fort.
Anwalt Sinan Zincir forderte deswegen nach Angaben der Firat News Agency (NFA) am Dienstag, die am Vortag behandelten Seiten erneut zu verlesen. Dazu habe aber aus Sicht des Gerichtes kein Grund bestanden, da die Anwälte und Angeklagten dem Prozess aus freiem Willen ferngeblieben seien. Zudem berichtete NFA, Zincir habe das Gericht gefragt, warum die inhaftierten Hungerstreikenden am Vortag nach Ende der Anhörung nicht wie sonst mit Zucker und Salz versorgt worden seien. Dem Gericht zufolge habe die Gefängnisaufsicht erklärt, dies sei ihres Erachtens nach nicht nötig. Die Gefangenen bräuchten nur Wasser, da sie Salz und Zucker in Form von Kerzen, die sie nachts in ihren Zellen äßen, zu sich nähmen.

Am Ende der Woche formulierten die Anwälte ihre Forderungen. Sie wiesen erneut daraufhin, dass ein Großteil der Beweise gegen ihre Mandanten rechtswidrig zustande gekommen sei. Telefone seien abgehört und Emails abgefangen worden. Außerdem sei höchst fraglich, ob die anonymen Zeugen, auf deren Aussagen die Anschuldigungen zum größten Teil beruhen, überhaupt existieren. Die Anwälte erklärten wiederholt, sie seien durchgehend in polizeilicher Bürokratensprache verfasst. Anwalt Ramazan Demir erklärte, die Aussagen sollten von einem Professor für Kommunikationswissenschaften analysiert werden. Mit dieser Aussage unterstrich er, wie unglaubwürdig die Beweise in den Augen der Anwälte sind.
Die Verteidigung forderte deswegen, die Identität der geheimen Zeugen preiszugeben und die rechtswidrigen Beweismittel aus der Anklageschrift zu entfernen. Zudem forderten sie, das Justizministerium solle über den Hungerstreik ihrer Mandanten informiert werden. Richter Ali Alçık wies ihre Forderungen zurück. Über diese Dinge sei bereits im September entschieden worden, eine erneute Entscheidung sei also unnötig, so das Gericht. Letztendlich wurden nach Angaben der Zeitung Evresel die beiden Inhaftierten Çiğdem Alsan und Oktay Candemir freigelassen und der Prozess auf den 4. Februar 2013 vertagt.

Von den hungerstreikenden Angeklagten hatten sich fünf Dem Protest von Beginn an angeschlossen. Der Gesundheitszustand der Streikenden in türkischen Gefängnissen hatte sich in der letzten Woche immer mehr verschlechtert. Laut offiziellen Angaben befanden sich zuletzt 1700 Gefangene im Hungerstreik, einige davon inzwischen seit beinahe 70 Tagen. Andere Quellen sprechen von etwa 10000 Hungerstreikenden. Diese drastische Maßnahme, die den Forderungen nach einem Ende der Isolationshaft von PKK-Führer Abdullah Öcalan und dem Recht auf Bildung und Verteidigung in Kurdisch Nachdruck verleihen soll, wurde für die türkische Regierung zu einem immer größeren Problem.
Premierminister Erdoğan behauptete bei seinem Besuch in Berlin Anfang November, der Hungerstreik sei eine Lüge und existiere real gar nicht. Zeitgleich berichtete aber Justizminister Sadullah Ergin seiner deutschen Amtskollegin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, dass aktuell 683 Gefangene in 66 türkischen Gefängnissen die Nahrungsaufnahme verweigerten.

In der türkischen Stadt Izmir kam es Ende letzter Woche zu einer Demonstration von Angehörigen der Hungerstreikenden. Diese forderten ein sofortiges Einlenken der Regierung. Viele Mütter von Inhaftierten schlossen sich dem Protest an. Sie forderten eine Lösung des türkisch-kurdischen Konflikts und appellierten dabei vor allem an das Gefühl der Menschen.  Hazal Suncak, die selbst Angehörig im Gefängnis hat, erklärte der Onlinezeitung Bianet: „Wir wollen nicht, dass junge Menschen in diesem Land sterben. Weder die in den Bergen noch die im Militär. Die  Mütter haben genug gelitten. Wir rufen die Regierung an, wir rufen alle an.“

Samstag Abend nahm der Hungerstreik eine überraschende Wendung. Öcalans Bruder Mehmet Öcalan hatte an diesem Tag den PKK-Führer auf der Insel Imralı besucht, wo er seit 1999 in Isolationshaft sitzt. Laut türkischen Medien habe dieser ihm den Auftrag gegeben, die kurdischen Gefangenen und Politiker zum sofortigen Ende des Hungerstreiks aufzurufen. „Diese Aktion hat ihr Ziel erreicht. Sie sollten den Hungerstreik unverzüglich beenden“, so die Worte Abdullah Öcalans.
Daraufhin seien Abgeordnete der pro-kurdischen Partei BDP in verschiedene Gefängnisse gegangen, um die Botschaft Öcalans bekannt zu geben.
Laut Angaben der Zeitung Turkishpress beendeten im Gefängnis von Buca, einem Vorort von İzmir, 520 Inhaftierte ihren Hungerstreik sofort, nachdem ihre Anwälte ihnen die Botschaft überbracht hatten. Die türkischen Medien erklärten den Hungerstreik am Sonntag, den 18. November 2012 für beendet.

Donnerstag, 15. November 2012

„Im Gerichtssaal wird ein Theater aufgeführt, aber ohne Publikum“

Diesen Montag wurde in einem Vorort von İstanbul der KCK-Prozess gegen 44 Journalisten forgesetzt. 38 von ihnen sind seit Monaten ohne Verurteilung in Haft. Eben diese 38 haben sich auch dem Hungerstreik in türkischen Gefaengnissen angeschlossen. 5 von ihnen haben seit über 60 Tagen keine Nahrung zu sich genommen. Und was tut das türkische Gericht? Es verhandelt lieber für sich alleine. Ohne Publikum, ohne Anwaelte und ohne Angeklagte. Es waere laecherlich, wenn es nicht so traurig waere.

Ich bin am ersten Prozesstag nach Silivri gefahren, um mir dieses Trauerspiel anzusehen. Hier meine Beobachtungen vom 12.11.201, veröffentlicht auf der Website der Deutschen Journalistinnen und Journalisten-Union (DJU) in ver.di 
 
„Im Gerichtssaal wird ein Theater aufgeführt, aber ohne Publikum.“
Fortsetzung des Prozesses gegen 44 Journalisten in Istanbul.


Es ist ein sonniger Wintertag in der türkischen Stadt Silivri, einem Küstenort etwa 80 km entfernt von Istanbul. Den meisten Bewohnern der Großstadt ist er vor allem als willkommener Ausflugsort für einen Tag am Strand bekannt. Doch nur wenige Kilometer vom Stadtzentrum entfernt wurde am heutigen Montag der Prozess gegen 44 überwiegend kurdische Journalisten fortgesetzt. 38 von ihnen befinden sich seit Monaten in Haft. Ihnen wird vorgeworfen, Mitglieder einer terroristischen Organisation zu sein. Es handelt sich dabei um die KCK, den zivilen Arm der Arbeiterpartei Kurdistands (PKK). Überschattet wird der Prozess, der Mitte September vertagt wurde, vom Hungerstreik der Inhaftierten.
Gerichtsgebäude in Silivri
Der erste von fünf angesetzten Prozesstagen endete jedoch sehr schnell. Das Gericht kam nicht über die Überprüfung der Anwesenheit hinaus. Wie auch zu Beginn des Prozesses antworteten die Angeklagten mit „Ez li virim“, „Ich bin hier“ auf kurdisch. Und ebenso wie zu Prozessbeginn tat Richter Ali Alçık so, als habe er das nicht bemerkt. Auch ihre Adresse gaben die meisten Angeklagten in ihrer Muttersprache an. Manche von ihnen sagten jedoch statt dessen „Ez weger daxwazim“, „Ich möchte einen Übersetzer“. Auch hier reagierte der Richter mit den Worten „Das ist Ihre Adresse. Setzen Sie sich.“ Er ließ sich scheinbar durch nichts von der vorgesehenen Prozedur abbringen.
Als der Angeklagte Kenan Kırkaya sich jedoch erhob und ankündigte, er wolle zum Hungerstreik Stellung nehmen, verweigerte Alçık ihm das Wort. Dieses Thema habe mit dem Prozess nichts zu tun.

In der Türkei befinden sich zur Zeit mehrere Tausend inhaftierter Kurden im Hungerstreik. Um ihren Forderungen nach dem Recht auf Ausbildung und Verteidigung vor Gericht in Kurdisch und dem Ende der Isolationshaft des PKK-Führers Abdullah Öcalan Nachdruck zu verleihen, traten sie am 12. September in den Hungerstreik. Einige von ihnen haben seit über 60 Tagen keine Nahrung zu sich genommen. Viele weitere Inhaftierte schlossen sich in den letzten Wochen dem Streik an.

Kırkaya bestand im Gerichtssaal darauf sich zur Sache zu äußern. Als andere Angeklagte in in der Diskussion mit dem Richter unterstützten, drohte dieser, Kırkaya aus dem Saal bringen zu lassen. Daraufhin erhoben sich alle Angeklagten und erklärten, sie werden den Raum gemeinsam verlassen. Der Richter reagierte darauf mit einer Unterbrechung der Verhandlung für 15 Minuten und einer Räumung des gesamten Gerichtssaales. Unter dem Applaus der Zuschauer verließen die Angeklagten den Raum.

Damit war der öffentliche Teil der Verhandlung für diesen Tag jedoch beendet. Das Gericht erklärte, aufgrund des Protestes im Publikum sei dieses nun im Saal nicht mehr zugelassen. Die Anwälte protestierten, die Angeklagten weigerten sich, unter diesen Umständen zurückzukehren. Letztendlich verließen auch die Anwälte das Gericht als Zeichen des Protestes. Dieses setzte die Verhandlung alleine fort.
„Im Gerichtssaal sind keine Anwälte, keine Angeklagten und keine Zuschauer, nur der Richter und die Staatsanwaltschaft. Und die lesen sich die Anklageschrift jetzt selber vor“, erklärte Eren Keskin, eine der Anwältinnen. Sie erklärt, alle 38 inhaftierten Angeklagten seien im Hungerstreik, fünf von Ihnen schon seit dem ersten Tag. Ihnen gehe es dementsprechend schlecht, sie hätten sehr stark abgenommen. Als ihre Mandanten sich vor Gericht erklären wollten, sei Ihnen dieses Recht abgesprochen worden. In diesem Verfahren gehe es um Journalisten, aber in der Türkei würden Kurden aller Professionen kriminalisiert. „Die kurdischen Rechte sind seit der Gründung der Republik außer Kraft“, so Keskin.
Pervin Bulda, Abgeordnete der pro-kurdischen Partei für Frieden und Demokratie (BDP) erklärte, die Forderungen der Angeklagten seien alle angemessen, die Türkei würde den Menschen aber keine Möglichkeit bieten, dafür einzutreten. Damit werde gegen die Prinzipien des Rechtsstaates verstoßen. Man müsse den Weg bereiten für Veränderung, hin zu Frieden, Demokratie und Menschenrechten. Auch Bulda verurteilt die Entscheidung des Gerichts: „Im Gerichtssaal wird ein Theater aufgeführt, aber ohne Publikum, ohne die Anwälte, und ohne die Angeklagten.“ 
Pressekonferenz der Anwälte
Unter den Beobachtern des Prozesses war auch Belma Yıldıztaş mit ihrer sechs Monate alten Tochter Zerya Zin. Ihr Mann, der 30-jährige İsmail Yıldız, ist einer der Angeklagten. Die Vorwürfe gegen ihn beruhen – wie so viele andere auch – auf rechtswidrig aufgezeichneten Telefonaten, abgefangenen Emails und widersprüchlichen anonymisierten Zeugenaussagen. Angeblich sei er der Presseverantwortliche der Terrororganisation gewesen. Als freier Journalist hatte Yıldız für verschiedene Zeitungen berichtet, darunter auch die in der Türkei verbotene Fırat News Agency, die ihren Sitz in den Niederlanden hat.
Belma Yıldıztaş
„Der Staat weiß nicht, was er tun soll“, erklärte Belma. „Deswegen wird der Prozess immer weiter hinausgezögert und verlängert. Solange der Staat keine Entscheidung trifft, können wir nur warten.“ Seit Dezember letzten Jahres sei ihr Mann im Gefängnis. Die Geburt seines Kindes habe er nicht miterlebt. Sollte er verurteilt werden, drohen ihm bis zu 12 Jahre Haft.
Seit einer Woche befindet auch Yıldız sich im Hungerstreik. Seine Frau lehnt diese Form des Protests kategorisch ab. Sie erklärte außerdem, ihr Mann und viele andere hätten sich aus Solidarität angeschlossen. „Die meisten von ihnen streiken nicht dauerhaft. Sie hungern für etwa zehn Tage, dann machen sie eine kurze Pause.“ Um Yıldız’ Gesundheit sei sie deswegen nicht besorgt.

Anders ist die Lage der Hungerstreikenden, die seit über 60 Tagen die Nahrungsaufnahme verweigern. In der Stadt Siirt im Südosten der Türkei sind heute die ersten vier Streikenden in den Krankenhaustrakt des Gefängnisses verlegt worden. Sie waren zu schwach, um mit ihren Anwälten zu sprechen.
Fethi Bozçalı ist Vorstandsmitglied der türkischen Ärztekammer. Sie wollen eine Gruppe von Ärzten in die Gefängnisse schicken, um die Gefangenen zu betreuen. Seit einem Monat versuchen sie schon, die Erlaubnis dafür zu bekommen. Bisher ohne Erfolg. „Man schickt uns vom Justizministerium zum Oberstaatsanwalt zum Gefängnis und wieder zurück “, so Bozçalı. “Wir sprechen uns für das Recht auf Leben aus, wir wollen wegen des Hungerstreiks keine Menschen sterben sehen. Was wir wollen sind Lösungen, keine Toten.”
144 Hungerstreiktote habe es in der Türkei seit den 1980ern gegeben. Er selbst war bei den Streiks 1996 und 2000 als Arzt bei den Hungernden. Ihm zufolge ist es schwer, die mögliche Höchstdauer eines solchen Protests in Tagen zu fassen. „Ich habe schon Menschen nach dem 50. Tag sterben sehen. Vielmehr wird die Situation kritisch, wenn die Streikenden 15% ihres ursprünglichen Körpergewichts verloren haben.“
Ob die Ärzte in die Gefängnisse dürfen, ist immer noch unklar. Bozçalı ist besorgt. „Ich habe Menschen in meinen Händen sterben sehen. Aber dieses Mal ist es anders. Dieses Mal lassen sie niemanden hinein.“
 
 

Donnerstag, 27. September 2012

Knebel für die Pressefreiheit - die KCK-Verfahren in der Türkei

Ihr Lieben,
aus organisatorischen und ehrgeizigen (wenn auch unbegründeten) Gründen, bekommt ihr diesen Text erst jetzt hier zu lesen. Geschrieben habe ich ihn schon vor zwei Wochen. Aber ich wollte erst versuchen, ob ich ihn irgendwo unterbekomme. War nicht so.
Wie manche von euch wissen, war ich vom 9. bis zum 12. September in Istanbul. Ein echter  Kurztrip. Der Grund war der Prozess, von dem ich euch hier berichten will. Ich hatte das große Glück, mich einer deutschen Delegation bestehend aus Vertretern der DJU in ver.di, der Rosa-Luxemburg-Stiftung, der Parte Die Linke. und mehreren Journalisten als Prozessbeobachter anschließen zu dürfen. Nicht nur der Prozess selbst war sehr... aufschlussreich. Wir haben außerdem viele interessante Menschen und Organisationen getroffen, die mit uns über das Thema Pressefreiheit in der Türkei gesprochen haben. Was dabei herauskam, könnt ihr hier lesen:


Im Machtkampf um die Meinungsfreiheit: Massenprozess gegen Journalisten in der Türkei

Ihnen drohen bis zu 22 Jahre Haft, weil sie ihre Arbeit getan haben: Artikel geschrieben, recherchiert, Bericht erstattet. Am Montag, den 10. September 2012, standen in der türkischen Stadt Istanbul 44 Journalisten vor Gericht, die meisten von ihnen Kurden. 36 von ihnen sitzen seit Monaten in Untersuchungshaft. Ihnen wird vorgeworfen, Mitglieder der terroristischen Organisation KCK zu sein. Die KCK – Union der Gemeinschaften Kurdistans – gilt als der zivile Arm der PKK. Seit 2009 laufen gegen sie Verfahren in der Türkei, im November 2011 kam es zu einer großen Verhaftungswelle. Insgesamt sind in der Türkei 97 Journalisten in Haft.
Es ist schlecht bestellt um die Pressefreiheit in dem Land, das viele Deutsche vor allem mit weißen Sandstränden in Antalya oder buntem Großstadtleben in Istanbul in Verbindung bringen. Laut einer Statistik über Pressefreiheit von Reporter Ohne Grenzen befindet sich die Türkei im Jahr 2011 auf Platz 148 von 179.

Der Prozess gegen die Journalisten ist nur eines der KCK-Verfahren in der Türkei. Die Zahlen sind erschreckend. Laut dem türkischen Justizministerium sitzen insgesamt etwa 1000 Menschen in Untersuchungshaft. Kurdischen Aktivisten zufolge sind es um die 8000. Viele von ihnen sind Intellektuelle, Journalisten, Akademiker, Politiker.
Ein Prozess, der in den Medien einen Skandal auslösen muss. Sollte man meinen. Doch die türkischen Medien berichten kaum darüber. Zu stark wirkt der Druck, den Regierung und Verleger auf die Journalisten ausüben. Oftmals handelt es sich um Selbstzensur. Die Verleger sind zugleich Unternehmer und von ihren wirtschaftlichen Beziehungen zur AKP-Regierung unter Ministerpräsident Erdogan abhängig. Und so kann für die Journalisten jeder geschriebene Satz, der die Regierung kritisiert, die Kündigung mit sich bringen. Wenn es denn dabei bleibt: Eine Journalistin im aktuellen KCK-Verfahren steht vor Gericht, weil sie über sexuelle Übergriffe bei der türkischen Fluggesellschaft Turkish Airlines berichtet hat. Der Vorwurf: Verunglimpfung des türkischen Staates.

Eine Situation, die der Vorsitze der türkischen Journalistengewerkschaft TGS, Ercan Ipekci, als empörend empfindet. „Diese Journalisten haben keine Waffe in die Hand genommen, sie haben niemanden umgebracht. Sie haben nur ihre Arbeit getan.“ Das Problem sind die Anti-Terror-Gesetze in der Türkei. Dort sind die Begriffe „Terrorismus“ und „Terrorist“ so offen definiert, dass eigentlich alles auf sie zugebogen werden kann. „Irgend etwas findet sich immer, um einen Journalisten wegen Terrorismus anzuklagen“, so Ipekci.
Der Menschenrechtler und Verleger Ragip Zarakolu erklärt, in keinem Land gäbe es so viele „Terroristen“ wie in der Türkei. Tausende und Abertausende sähen sich dieses Vorwürfen ausgesetzt. „Diese Situation ist für mich als Menschenrechtsaktivisten nicht akzeptabel“. Zarakolu ist selbst des Terrorismus angeklagt, ebenso sein Sohn Deniz.

Enttäuschte Hoffnungen im türkisch-kurdischen Konflikt

Ipekci erklärt, die AKP habe ihre Ideologie zur Staatsmeinung erhoben. Sie habe die ersten Jahre ihrer Amtszeit genutzt, um ihre Macht zu konsolidieren und Bündnispartner zu finden. Dies war auch die Zeit, in der es schien, als gäbe es Hoffnung im Konflikt mit der kurdischen Bevölkerung. Doch seit den Wahlen 2011 verschlechterte sich die Situation wieder rapide. Dann kamen die Verhaftungswellen im November 2011 und die Prozesse gegen die pro-kurdische Bewegung 2012. In den letzten Wochen eskaliert der bewaffnete Konflikt, beinahe täglich kommt es zu Zusammenstößen mit zahlreichen Toten zwischen den Kämpfern der PKK und dem türkischen Militär im Südosten des Landes.
„Es gilt jetzt, für Presse- und Meinungsfreiheit gegen eine übermächtige Regierung zu kämpfen“, erklärt Ipekci mit ernster Miene. „Unsere Journalisten zahlen dafür einen hohen Preis. Sie werden verprügelt, verhaftet und umgebracht. Der eigentliche Kampf ist es, dieses Thema in den Vordergrund zu rücken.“ Er bezieht sich dabei nicht nur auf eine Diskussion in der türkischen Öffentlichkeit. Ipekci sieht eine große Notwendigkeit darin, die internationale Öffentlichkeit zu informieren. 

Das Foyer des Justaizpalastes in Istanbul.

Machtdemonstrationen vor Gericht

Der Prozessauftakt selbst gleicht eher einem Machtspiel denn einem fairen Prozess. Schon das Gerichtsgebäude ist eine Demonstration der Macht. Stockwerk über Stockwerk erheben sich Galerien, die eine enorme Eingangshalle umschließen. Nach mehreren Sicherheitskontrollen kann man endlich den von Uniformierten bewachten Gerichtssaal betreten. Dieser wiederum hat von der Größe her eher Ähnlichkeit mit einem Klassenzimmer als einem Saal, der Platz bieten soll für 44 Angeklagte, ihre Anwälte und Zuschauer.
So kommt es, dass tatsächlich nicht genügend Stühle für die über 50 Anwälte vorhanden sind. Als diese sich weigern, der Aufforderung des Richters nachzukommen und sich in den Zuschauerraum zu setzen, wird die Verhandlung kurzerhand für zwei Stunden unterbrochen und der Saal geräumt. Während die Angeklagten aus dem Saal geführt werden, rufen sie und winken ihren Freunden und Verwandten im Publikum zu.
Als der Prozess letztlich startet, kommt sofort eines der heikelsten Themen auf den Tisch. Bei der Kontrolle der Anwesenheit antworten die Angeklagten mit „Ez li virim“, „Ich bin hier“ auf Kurdisch. Die kurdische Kultur wird in der Türkei stark unterdrückt, Kurdisch als Sprache ist vor Gericht nicht zugelassen. Meist wird in einer solchen Situation protokolliert, der Angeklagte habe in einer „unbekannten Sprache“ geantwortet. Erstaunlicherweise protestiert der Richter in diesem Fall nicht. Er akzeptiert die kurdischen Antworten aber auch nicht. Am Ende des Vorgangs erklärt er bloß, das Gericht habe gesehen, dass alle Angeklagten anwesend sind.
Anschließend bringen die Anwälte ihre Anträge vor. Sie kritisieren die türkischen Sondergerichte, welche die Terrorismus-Verfahren seit dem Jahr 2005 leiten, in ihren Augen aber weder unabhängig noch objektiv sind. Zudem zeigen sie sich empört über die Umstände des Verfahrens. Der kleine Raum ist ihrer Meinung nach ein Mittel, Zuschauer vom Prozess fernzuhalten und somit eine Kontrolle durch die Öffentlichkeit zu erschweren. Unter diesen Umständen sei ein gerechtes Verfahren nicht möglich. Weiterhin fordern die Angeklagten das Recht ein, sich in ihrer Muttersprache verteidigen zu dürfen.
Auch am zweiten Prozesstag geht es noch um juristische Verfahrensfragen. Die Anwälte erklären, viele der Beweise in der 800-seitigen Anklageschrift seien haltlos und durch polizeiliche Maßnahmen zustande gekommen, die gegen geltendes türkisches Recht verstoßen. Es seien Privatgespräche abgehört und illegale Hausdurchsuchungen durchgeführt worden. Bei diesen seien nicht einmal Waffen oder anderes belastendes Material gefunden worden. Das einzige, was die Polizei habe mitnehmen können, waren Texte, Fotos und Videos. Dinge, die man in der Wohnung eines Journalisten erwartet.
Ein Großteil der belastenden Zeugenaussagen beruht auf so genannten „geheimen Zeugen“. Sie treten nicht im Gerichtssaal auf und können somit auch nicht zu ihren Aussagen befragt werden. „Diese Aussagen lesen sich wie ein Fantasy-Roman“, so einer der Anwälte. „Sie sind außerdem alle in einer bürokratischen Polizeisprache gehalten.“ Dies bezieht er sowohl auf die Aussagen als auch auf das, was ihnen zufolge die Journalisten angeblich gesagt haben. Die Anwälte bezweifeln die Echtheit dieser Zeugen. „Vor kurzem musste die Polizei in einem anderen Verfahren in der Stadt Van zugeben, dass sie Zeugen erfunden hat“, erklärt der Anwalt Ramazan Demir. Für ihn ist ein solcher Massenprozess längst nichts Ungewöhnliches mehr. „Es ist schlimm, dass etwas so Außergewöhnliches hier zur Normalität wird.“
Die Anwälte bezeichnen die Anklageschrift in ihrer Gesamtheit als nicht hinnehmbar: „Wäre diese Anklageschrift die Arbeit eines Jura-Studenten im ersten Jahr, seine Dozenten würden ihn durchfallen lassen.“ Der Menschenrechtsanwalt Ercan Kanar erklärt, es handle sich hier um einen politischen Prozess, in dem es um die Grenzen der Pressefreiheit und das Recht der Menschen auf Information gehe. Die AKP greife gezielt die freie Presse in der Türkei an. Ein anderer Anwalt zeigt sich überzeugt, dass die „Methoden des totalitären Staates auf ihn selbst zurückfallen werden.“

Protest vor dem Gerichtsgebäude: "Lasst die geiseln frei"  "Beginnt die Verhandlungen"

Am Nachmittag des zweiten Prozesstages kommt es im Gerichtssaal zu einem Tumult. Die Anwälte werfen dem Gericht vor, sie respektlos und von oben herab zu behandeln. Die Stimmung wird immer angespannter, das Publikum beginnt aus Protest zu rufen und zu klatschen. Der Richter lässt abermals den Saal räumen und kündigt an, den Prozess am nächsten Tag unter Ausschluss der Öffentlichkeit fortzusetzen. Zudem würden alle, die geklatscht hätten, mit Hilfe der Überwachungsbilder identifiziert und selbst rechtlich belangt werden.

Knebel als Zeichen des Protests

Laut einem Bericht von Reporter ohne Grenzen verkündete das Gericht am Donnerstag, dass keiner der Angeklagten aus der Untersuchungshaft entlassen werde. Alle 36 Inhaftierten müssen bis zur Prozessfortsetzung in etwa zwei Monaten im Gefängnis bleiben. Außerdem werde der Prozess etwa 100 Kilometer von Istanbul entfernt vorgesetzt. Die Anwälte sehen hierin eine weitere Maßnahme, um die öffentliche Kontrolle der Prozesse zu behindern. Die Anträge der Anwaltschaft hat das Gericht sämtlich abgelehnt. Es wird nicht nur keine Entlassungen geben, sondern ebenso keine Diskussion über die Zulässigkeit der Anklagepunkte und kein Recht auf Verteidigung in der Muttersprache Kurdisch. Nach der Verkündung dieses Beschlusses klebten sich die Angeklagten aus Protest schwarze Streifen auf den Mund und drehten sich mit dem Rücken zum Gericht. Sie werden in den kommenden Verhandlungen wohl schweigen. Das Wort haben ihre Anwälte.


Donnerstag, 27.09.2012; Nachtrag:

Das Gericht hat beschlossen, doch noch zwei Angeklagte aus der Untersuchungshaft zu entlassen: Çağdaş Ulus von der türkischen Tageszeitung Vatan und Cihat Ablay, der für die Fırat Vertriebsgesellschaft arbeitet.
Immerhin etwas?
Diese Woche im Zuge der KCK-Ermittlungen noch einmal beinahe 40 Menschen verhaftet, darunter Politiker der BDP, Journalisten und Mitarbeiter der Menschenrechtsorganisation İnsan Hakları Derneği (İHD).

Und falls ihr mehr lesen wollt: Die Berichte von Joachim Legatis auf der Seite der DJU



Die Protestierenden zeigen Bilder der Inhaftierten.


Mittwoch, 1. August 2012

So weit die Füße tragen

Istanbul!

Seit einer Woche bin ich wieder hier, und noch eine Woche mehr. So ungefähr... Am Montag werde ich mich mit einem lachenden und einem weinenden Auge ins Flugzeug nach Berlin setzen.
Aber eigentlich vor allem lachend. Das Abschiednehmen fällt nicht so schwer - in drei Monaten bin ich ja schon wieder hier! (Und zwar mit Leonardo Stipendium, jeeeha!)
Ich will euch gerne ausführlich von meiner Reise berichten, aber das wird wohl noch ein bisschen auf sich warten lassen - ein Monat ist lang, und besonders ein Monat auf Reisen ist nicht in 5 Minuten erzählt. Und das ganze dann aufzuschreiben... ei ei ei!
Aber hier will ich euch einen ersten Eindruck geben!

Ich bin von Istanbul aus am Schwarzen Meer entlang gefahren, bin bei Freunden von Freunden untergekommen, bin couch gesurft, bin mit zwei verrückten Spaniern gehitchhiked, habe die Grenze nach Georgien überquert und habe die ungemütlichste Nacht meines Lebens in einer Marshrutka, einem georgischen Minibus verbracht. Ich habe alte Bekannte in Tbilisi getroffen, bin in die Berge nördlich von Kutaisi gefahren und habe mit einer Menge Hippies den Vollmond bestaunt und Musik gemacht und mit Juan ein fantastisches Picknick am Strand von Kobuleti veranstaltet - mit dem Essen, dass uns ein von unserer Begeisterung für sein Land begeisterter Georgier geschenkt hat. Wir haben  die Cay-Felder (Tee-Felder) und -Fabriken in der nordöstlichsten Ecke der Türkei bestaunt, sind in Erzurum von einem Mann zu Cay und Keksen in sein sehr alters und sehr schönes Haus eingeladen worden, in eine Polizei-Kontrolle (auf der Suche nach PKK-Terroristen) geraten und haben letztendlich mit zwei netten LKW-Fahrern in ihrem LKW übernachtet. Ich bin nach Malatya gefahren, habe Mount Nemrut bestaunt, in Dogansehir die süßeste Großmutter der Welt kennen gelernt, habe in Iskenderun geschwitzt und eine Hochzeit gefeiert, Künefe gegessen und mir in Antakya die älteste Kirche der Welt angeguckt. Ich habe Mersin gesehen und bin mit dem Boot von Tasucu nach Zypern gefahren. (Die fahren da auf der linken Seite Auto!) Ich habe das gefühl, auf einer geteilten Insel und in einer geteilten Stadt zu sein, als sehr seltsam empfunden und Schweinefleisch gegessen - während in der Türkei der Ramazan (Ramadan) losging. (Ha ha!) Letztendlich bin ich mit einem Bus zurück nach Istanbul gefahren, was nur 15 Stunden gedauert hat. Und dann habe ich in Istanbul einfach jeden wieder getroffen... Ein paar übrig gebliebene Erasmus Studenten, einen Haufen Leute, die ich in den georgischen Bergen getroffen habe, alte Freunde, neue Freunde, und jetzt: faste ich. Einen Tag Ramazan für Dinah! (Das mit dem Essen ist nicht so das Problem, aber.. wieso darf ich bei über 30°C nichts trinken??? noch 3 Stunden...)


Also.
Bis ich euch ausfühlrich berichte und eine Menge Fotos zeige:
Hier seht ihr, wohin meine Füße mich im letzten Monat so getragen haben. Fragt nicht nach den Blasen, die ich im Laufe der Wochen so erdulden musste. Aber meine Füße (und ich) sind sehr glücklich und voller Energie! Jippiiee!

Bis bald!



So weit die Füße tragen - As far as my feet will carry me

Mittwoch, 20. Juni 2012

Hadi görüşürüz, Istanbul!

Was soll man dazu sagen. Gerade eben war noch Ende Januar - und jetzt ist Mitte Juni schon vorbei!
Das waren sehr kurze 5 Monate. Sehr intensive 5 Monate. Und außerdem 5 Monate, in denen ich viel mehr in diesen Blog hätte schreiben können - aber dann war ich viel zu sehr damit beschäftigt, schon wieder das nächste Abenteuer zu erleben.
Das nächste Abenteuer steht jetzt kurz bevor: Ich breche in 2 Tagen die Zelte in Istanbul ab und mach mich auf den Weg durch die Türkei. Was da auf mich wartet, weiß ich noch nicht so genau... Ein bisschen Karadeniz (Schwarzes Meer), ein bisschen Georgien vielleicht? Auf jeden Fall tanze ich auf einer türkischen Hochzeit in Hatay. In Iskenderun, um genau zu sein. Auch bekannt als Alexandretta. ("Spricht hier jemand Altgriechisch?!") Und dann? Mittelmeer und Ägäisches Meer, denke ich. Auf dem Weg zurück nach Istanbul. Wo ich mich dann am 6.8. (hört hört! Wer kommt mich abholen?) in ein Flugzeug von Pegasus Airlines quetsche, mit meinem schon im Vorraus auf 30kg (hört hört! Wer kommt mich abholen?) aufgestockten Gepäck, und mich auf den nach Berlin mache.

Viele von euch wissen es ja schon, aber hier noch einmal die offizielle Ankündigung: Ich komme nur zu Besuch nach Deutschland! Ende Oktober komme ich zurück nach Istanbul, um ein dreimonatiges Praktikum bei einer NGO namens "TOG" zu machen. Ausgeschrieben heißt das zungenbrecherisch "Toplum Gönüllüleri Vakfı" (deutlich einfacher auf Englisch: "Community Volunteers Foundation").
TOG ist eine Jugend-NGO, die sich vor allem dafür einsetzt, jungen Leuten Engagement in der Zivilgesellschaft nahezubringen und ihnen zu zeigen, welche Möglichkeiten, Rechte und Verantwortungen sie haben. Also eine "Wir helfen euch, selbst was aufzubauen"-NGO. Sehr gute Sache, das! Falls es wen interessiert: http://www.tog.org.tr/EN/


Und sonst - was gab es so die letzten Monate?
Ein Schnelldurchlauf:

Viel Schnee auf vielen Hügeln in Istanbul
Viel Klettern auf eben diese vielen Hügel
Deswegen gestählte Oberschenkel

Den be- und verzaubernden Bosporus (und Millionen Fotos von Fährenfahrten)



Die Feststellung, dass in der Türkei JEDE Stadt für etwas berühmt ist - und, dass es sich dabei immer um Essen handelt

Tagesausflüge in Orte wie Edirne (berühmt für Leber) und Bursa (berühmt für Iskender Kebab)



Viel Besuch von vielen lieben Leuten

Tausende von Basarbesuchen 



Viel Fluchen über den horrend teuren Alkohol in der Türkei

Unentwegtes Kopfschütteln über die verrückte und empörende Art und Weise, wie in Istanbul "Stadterneuerungsprojekte" umgesetzt werden

 

Eine Reise ins "wilde Kurdistan", nach Mesopotamien, zwischen Euphrat und Tigris (Fırat und Dicle) - eine Woche Diyarbakır, Hasankeyf, Midyat, Savur, Dara und jede Menge Eindrücke, Begegungen, Freundschaften

Musik an jeder Ecke

 

Ungemein viele nette, mal versteckte und mal sehr offensichtliche tolle Cafés und Kneipen

Eine große 1. Mai Demo in Taksim



Die Angewohnheit, Çay ohne Zucker zu trinken, um nicht am Zuckerschock zu sterben

Jede Menge Balık Ekmek (Fischbrötchen)

Jede Menge Baklava
(Und die Feststellung, dass hier sogar die Baklava politisch ist) 



Jede Menge Essen allgemein 
 
Viele neue Freunde von so quasi überall her

Darin inbegriffen fantastische Mitbewohner :) 



Eigentlich waren hier viele viele Fotos, aber die Technik sabotiert mich...

Bei diesen Eindrücken und den frischen Erinnerungen an einen fantastischen Geburtstag gestern - mit Kuchen zum Kerzenausblasen, Geburtstagsständchen, viel Musizieren und lauter lieben Menschen - will ich es erst einmal belassen. Fotoalben folgen, und noch mehr Geschichten wollen erzählt werden. Aber da ich nicht glaube, dass ich das vor Freitag schaffe, muss diese "Sparversion" erst einmal herhalten... Mit diesen Worten verabscheide ich mich also wahrscheinlich bis August. Von Menschen, die hier was lesen wollen, vor allem aber von Istanbul und den Menschen hier, vom Erasmus-Leben und von diesem Abschnitt meines Lebens. 

Auf ein Neues!
Da bleibt nur noch eins zu sagen, und zwar das schönste Türkische Wort überhaupt:

Gürültülü!