Donnerstag, 12. Juni 2014

Her Yer Taksim - Prozessbeginn gegen Gezi-Aktivisten

Es ist noch nicht ganz 9 Uhr morgens, als Mücella Yapıcı, eine aeltere Dame in blauem Kleid und weisser Bluse, vor dem gigantischen Gerichtsgebaeude in İstanbul auftaucht. Die Umstehenden begrüssen sie freundlich, schütteln ihr aufmunternd die Hand, klopfen ihr auf die Schulter. Sie nickt ihnen zu, laechelt, und verschwindet dann mit ihren Begleitern im Gebaeude.

Yapıcı ist Vorsitzende der İstanbuler Architektenkammer und eine der fünf Hauptangeklagten im Prozess gegen die Mitglieder der Taksim Solidaritaet. Die Bürgerinitiative war an der Organisation der Proteste im İstanbuler Gezi-Park im vergangenen Jahr beteiligt. Die Staatsanwaltschaft wirft ihnen die Bildung einer kriminellen Vereinigung vor. Werden sie verurteilt, drohen ihnen bis zu 13 Jahre Haft. Insgesamt stehen an diesem Tag 26 Personen vor Gericht. Ihnen allen werden Straftaten im Zusammenhang mit den Protesten vorgeworfen.

Der Gerichtssaal ist überfüllt. Laengst nicht jeder, der zum Zuschauen gekommen ist, findet einen Sitzplatz. Dabei ist die Menge der Zuschauer mit 150 bis 200 Personen überschaubar. Mehr Unterstützer sind nicht gekommen. Es ist immerhin mitten in der Woche, ein Werktag. Absicht, da sind sich viele der Beobachter sicher. Dass trotzem nicht genug Platz im Saal ist, liegt schlicht an der Raumgrösse. Den halben Raum besetzen die Angeklagten und ihre Anwaelte, mehr als 100 Sitzplaetze gibt es im Zuschauerbereich nicht. Dabei findet der Prozess im grössten Gerichtsgebaeude Europas statt. Die Grösse dieses Baus, auf den Premierminister Erdoğan überaus stolz ist, ist jedoch mehr Schein als Sein - einen Grossteil des Gebaeudes nimmt die enorme Eingangshalle ein.

Wer es in den Saal geschafft hat, bekommt trotzdem nicht viel mit. Es fehlt an Mikrofonen, die Verlesung der Anklageschrift dringt so gut wie gar nicht bis zum Publikum vor. Dann steht Mücella Yapıcı auf und traegt mit lauter Stimme ihre Verteidigung vor. Taksim Solidaritaet sei keineswegs eine kriminelle Vereinigung, sondern eine Plattform, auf der zivilgesellschaftliche Gruppen zusammengekommen seien. "Auf der İstiklal-Strasse entlangzugehen oder den Gezi-Park zu betreten ist kein Verbrechen", sagt sie. "Aber die Polizei verbietet es uns." 

Yapıcı soll ausserdem die Arbeit der Polizei behindert haben. Ein Vorwurf, der sie schmunzeln laesst. "Ich bin zu alt dafür", sagt die 63-jaehrige. "Wenn die Polizei wirklich annimmt, dass ich das kann, dann tue ich das auch. Es ist zu schmeichelhaft." Dann wird Yapıcı wieder ernst. "Statt uns sollten sie lieber die Verantwortlichen für die Polizeigewalt anklagen." Im Saal bricht Applaus aus.

Yapıcı und ihre Mitangeklagten sehen sich nicht nur als Einzelpersonen, die vor Gericht stehen. "Wir verteidigen nicht nur uns selbst, sondern die ganze Gezi-Park-Bewegung", sagt Ali Cerkesoğlu von der İstanbuler Aerztekammer. Auch er ist einer der fünf Hauptangeklagten, ebenso wie Haluk Ağabeyoğlu. Ihnen drohen ebenfalls hohe Haftstrafen. Doch das spielt für Ağabeyoğlu keine Rolle. "Es geht nicht um unsere individuelle Zukunft", erklaert er. "Wir leben in einer Gesellschaft. Und um die geht es, nicht um uns." 

Für Ağabeyoğlu ist dieser Prozess ganz klar kein juristischer, sondern ein politischer. Dass das Verfahren überhaupt eröffnet wurde, zeigt in seinen Augen die Angst des Staates vor zivilem Widerstand. Deswegen sei die Verhandlung an diesem Tag kein "Prozess in diesem Sinne", und auch über den Ausgang könne man noch nicht viel sagen. Bis zum Urteilsspruch kann noch viel Zeit vergehen, und Ağabeyoğlus Meinung nach ist der Ausgang ungewiss. "Das Recht wird heute vom Ministerpraesidenten gesteuert, und der verhaelt sich inzwischen wie ein Diktator", sagt er. 

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